08 Nov Frau Graff, Frau Graff, wir verreisen!

Anna Graff war die erste Frau meines Vaters. Die beiden lebten in Salzburg, wo mein Vater Architekt und Baurat war. Seine eigentliche Passion aber war die Portrait-Malerei. Keiner aus seiner Umgebung, der ihm gefiel, war dabei vor ihm sicher. Auch nicht die zwei Mädchen, die er 1939 malte und als „Zigeuner-Mädchen“ titulierte.

Freundschaft zu Juden

Die beiden waren weder Roma noch Sinti, es waren zwei jüdische Mädchen aus der Nachbarschaft. Aber 1939, als die Bilder entstanden, war Österreich bereits ins Deutsche Reich eingegliedert und die Freundschaft zu Juden wurde nicht mehr als rechtens angesehen. Als Baurat war mein Vater sogar für die Nazis tätig, denn das erste, was für das neue große Reich gebaut werden musste, waren Kasernen.

Die Absurditäten des 3. Reichs

Auf diese Art wäre er vermutlich vom Krieg mehr oder weniger verschont geblieben, aber die Absurditäten des 3. Reichs sorgten dafür, dass auch er nach Russland verschickt wurde. Nicht für sehr lange, denn glücklicherweise wurde er verletzt. Ein Granatsplitter traf ihn am Hals. Gerade so, dass es dafür reichte nach Hause geschickt zu werden. Die Narbe hat er sein Leben lang behalten, aber Nachwirkungen nicht. Zumindest nicht davon. Eher von dem, was er auf der Rückfahrt gehört hat.

„Frau Graff, Frau Graff, wir verreisen!“

Im Zugabteil traf er einen anderen Soldaten, der ihm voller Stolz erzählte, was sie mit den Juden in den Konzentrationslagern anstellten. Mein Vater war fassungslos und gleichzeitig voller Angst und Hoffnung, dass sich so etwas rächen wird. Angst, weil er selbst Deutscher war und Hoffnung, dass die Welt wieder gerecht werden wird.

Anna, seine Frau war zu dieser Zeit allein in Salzburg, machte ihre Besorgungen und versuchte ein normales Leben zu führen. Hin und wieder traf sie die zwei jüdischen Mädchen, die immer noch in Salzburg lebten und allmählich größer wurden. Bis zu jenem Tag, als die beiden ihr zuwinkten und voller Freude zu ihr herüber riefen: „Frau Graff, Frau Graff, wir verreisen!“

Ännchen

Anna Graff hat wahrscheinlich schon Schlimmes geahnt, als die zwei Mädchen von ihr weggingen. Gewissheit hatte sie aber erst, als mein Vater nach seiner Zugfahrt eintraf und die Geschichte von dem Soldaten, den er getroffen hatte, nacherzählte.

Das Ännchen, wie mein Vater seine erste Frau liebevoll nannte, hat sich von der Geschichte nicht mehr erholt. Auch der Umzug nach Köln hat nicht geholfen. Im Gegenteil, hier steigerte sich ihre Traurigkeit so weit, dass sie eines Tages in den Rhein ging und sich das Leben nahm.

Mein Vater hat sie in Köln Bocklemünd beerdigen lassen, auf einem kleinen Friedhof auf einem kleinen Hang mit Blick auf den jüdischen Friedhof. Auf dass sie so ihren Frieden findet. Meine Tochter hat hier sechzig Jahre später für eine kurze Zeit direkt neben dem Friedhof gewohnt.

Reichsprogromnacht

Mein Vater hat ein paar Jahre später meine Mutter Hedwig geheiratet. Mein Bruder und ich wären wahrscheinlich ohne das Schicksal dieser zwei Mädchen gar nicht geboren worden. Die zwei Mädchen, deren Bilder mich ein Leben lang begleitet haben. Früher in der Wohnung meiner Eltern und jetzt in meiner eigenen. Sie haben mich zu einem Gerechtigkeitsfanatiker gemacht. Wenn jemand Israel kritisiert, schimpfe ich automatisch über Deutschland.

Es tut mir weh, dass wir hier in Wohlstand und Sicherheit leben und Juden immer noch bekämpft werden. Auch hier in Deutschland. Ausgerechnet hier. Das macht mich mehr als wütend. Vor allem an einem Tag, an dem sich die Reichsprogromnacht jährt.

Filme der Woche

Ich habe in meinem Leben nur zweimal in einem Flugzeug geweint. Vor Rührung, weil ich mich schon immer vorgestellt hatte, dort anzukommen. Einmal im Landeflug auf San Francisco und das zweite Mal über Tel Aviv. Das war vor einem Jahr. Vier Filme haben wir damals im heiligen Land gemacht. Einen über die Altstadt von Jerusalem, einen über die Neustadt, einen über die Geburtsklinik in Behtlehem und einen, der noch nicht fertig ist. Die Aufnahmen in Bethlehem aus unserem Film „Wir sind die Kinder“ sind bei einem anderen Besuch entstanden, als das Team ohne mich dort war.