10 Jun EM 2016

NeussNein, wir schreiben nicht oft über Fußball. Unseren letzten Beitrag zum Thema schrieben wir anlässlich des Eierkopp-Eklats. Dass wir uns so selten damit befassen, liegt hauptsächlich daran, dass ich von Fußball Null Ahnung habe. Ich weiß, dass das Runde ins Eckige muss, dass Zidane Materazzi in einem WM Finale eine Kopfnuss verpasst hat, und dass niemand die bunten Karten des Schiris haben will. Da hört es auch schon auf. Warum ich mich im Gegensatz zu anderen Deutschen nicht dafür begeistern kann? Ich weiß es nicht! Aber nun steht die EM 2016 vor der Tür. Wie könnten wir das nicht zum Thema der Woche machen?

Der Fußball und ich – keine Liebesgeschichte

Eigentlich war ich schon immer vom Fußball umgeben. Auf der Straße, auf der ich aufwuchs, gab es zwei Kinder in meinem Alter, die, dem Vorbild ihres Vaters folgend, verrückt nach Fußball waren. Bei Grillparties und reichlich Bier (und Softdrinks für die Kinder) feierten sie leidenschaftlich Spiele von Borussia Dortmund, weinten bei Niederlagen und wärmten sich im Winter mit Borussiaschals und -mützen. Die Grillparties fand ich super; nur der Anlass, die Fußballspiele, interessierten mich nicht. Auf der weiterführenden Schule bekam ich eine weitere Chance, mich für den Lieblingssport der Deutschen zu begeistern: mein neuer bester Freund und sein Vater waren ebenfalls Borussia-Fans. Und ihre Events waren ein Stück ausgereifter, als die der Nachbarsfamilie aus meiner Kindheit. Hier wurde die halbe Nachbarschaft eingeladen, die Übertragung des Fußballspiels auf einer riesigen Leinwand anzusehen. Aber auch hier faszinierte mich eher die Begeisterung der Fußballfans, nicht der Fußball selbst. Auch als meine Schwester anfing im Verein Fußball zu spielen, konnte ich mich nicht so recht darauf einlassen. Meine schwierige Beziehung zu diesem Sport wurde verkompliziert, als ich dann in der Oberstufe mit einem Jungen zusammen kam, der ebenfalls Borussia Dortmund verehrte, während sein Vater überzeugter Schalker war. Die angespannte Stimmung und die schadenfrohen Kommentare nach der Niederlage einer der beiden Vereine machten es mir noch schwerer, auch nur einen Funken Interesse an diesem Sport zu haben. Ich fragte mich, warum man sich in Lager aufteilen und sich gegenseitig verachten musste – als gäbe es nicht schon genug, über das man sich streiten kann.

Wir zu Gast bei Feinden

Okay, das klingt jetzt vielleicht so, als würde ich auf den Fußball und seine Anhänger hinab blicken, oder zum Ausdruck bringen wollen, dass ich kein Verständnis für die Begeisterung für diesen Sport habe. Das ist keinesfalls so! Denn – epic plot twist – nachdem die Versuche meiner Freunde und meiner Schwester, mein Interesse für Fußball zu wecken, vorerst gescheitert waren, passierte eines wunderschönen Sommerabends etwas Unerwartetes! Meine Familie und ich waren über den Sommer in Italien, während der EM 2012. Und als Deutschland dann Italien im Halbfinale gegenüberstand, hielt meine Mutter es für eine gute Idee, in eine Dorfkneipe zu gehen und die deutsche Nationalmannschaft anzufeuern. Und das taten wir auch. Meine Familie gröhlte lauthals den deutschen Spieler zu, während ich am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre und fest damit rechnete, dass mindestens einer von uns an diesem Abend noch eine Bierdusche oder einen Kieferhaken von den Einheimischen bekommen würde. Doch das Gegenteil trat ein.

Zuerst waren die Italiener natürlich irritiert, weil meine Familie in Jubel ausbrach, wenn die Deutschen in Ballbesitz kamen und erleichtert ausatmeten, wenn die Italiener eine Chance auf ein Tor verspielten. Und dann begriffen sie. „Wir haben den Feind zu Gast!“, erklärte die runzlige Dame hinter der Bar und lachte laut. Und dann begannen alle auf uns einzureden. Sie wollten Wetten abschließen, unsere Meinung über diesen und jenen italienischen Nationalspieler hören und uns natürlich auch ein bisschen ärgern. Meine Mutter übersetzte mit ihrem Opern-Italienisch und mein Vater kramte sein Schulenglisch aus den Tiefen seiner Hirnwindungen hervor, um sich mit den lebhaften Italienern unterhalten zu können. Die Stimmung war alles andere als feindselig – so viel Gastfreundschaft habe ich danach selten wieder gespürt. Auch wenn die Deutschen an diesem Abend gegen Italien verloren und damit aus der EM ausschieden, hatte ich zum ersten mal Spaß daran, der Mannschaft zuzujubeln, mitzufiebern. Hatte ich mich zu Beginn des Abends noch geschämt Deutsche zu sein, so war ich eineinhalb Stunden später stolzer darauf, als je zuvor. Und das nur wegen ein paar Fußballspielern und der Gastfreundschaft des Gegners.

Die Deutschen und der Nationalstolz

Ich glaube, dass der Fußball für die meisten Deutschen (unter anderem) deshalb so wichtig ist und so leidenschaftlich gefeiert wird, weil wir beim Fußball stolz auf uns sein dürfen, patriotisch sein dürfen, ohne Angst haben zu müssen, als rechts oder nationalistisch bezeichnet zu werden. Nationalstolz ist für viele Deutsche immer noch etwas Schmutziges, werden wir doch immer wieder daran erinnert, dass „die Deutschen“ unter Hitler zu einem der grausigsten Verbrechen der Menschheit fähig waren. Nationalität ist zwar nur ein Teil dessen, was uns als Person ausmacht, aber es ist ein verdammt wichtiger Teil. Schließlich sprechen wir die deutsche Sprache, leben ihre Bräuche und Werte. Nicht auf die eigene Nationalität stolz sein zu können bedeutet mit der eigenen Identität auf Kriegsfuß zu stehen. Auf die deutsche Nationalelf stolz zu sein – das ist jedoch unverfänglich. Hier geht es um sportliche Leistung. Wir dürfen die Fahnen schwingen, uns schwarz-rot-gold bemalen und „Deutschland, Deutschland“ brüllen, ohne dass jemand daraus schließt, wir würden alles nicht-deutsche als minderwertig betrachten.

EM 2016 – jetzt wird geweint!

Ich werde mich wohl in diesem Leben nicht mehr für den Vereinsfußball oder die einzelnen Spieler begeistern können. Ich weiß, dass das für manche nicht nachvollziehbar ist (ich werde nie den Ausdruck der Enttäuschung auf dem Gesicht meiner britischen Mitbewohnerin vergessen, als ich ihr sagte, dass ich nicht wüsste, wer Hummels sei und ihr daher auch nicht sagen konnte, ob ich ihn gutaussehend finde; oder den Abend in einem Pub im ländlichen Mississippi, als der Kellner mir begeistert erzählte, er habe vor Kurzem zum ersten Mal ein Fußballspiel geschaut und es viel spannender als American Football gefunden und ich nicht einmal die Vereine kannte, die er mir nannte). Auf die EM und die WM freue ich mich jedoch jedes Mal; ich gehe zum „Rudelgucken“ und fiebere mit den Spielern mit. Geweint habe ich bisher zwar noch nie, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wir von GRAFF.FF wünschen euch allen den größtmöglichen Spaß bei der EM 2016. Eure Vorfreude könnt ihr teilen, indem ihr unsereVideopostkarten zum Thema der Woche „EM 2016“ verschickt!