01 Apr Angst

AngstIch erinnere mich sehr deutlich an das erste Mal, als ich wirklich Angst hatte. Ich war etwa vier und durfte nur sehr selten fern gucken. Das stank mir gewaltig, also schloss ich mich eines Tages im Wohnzimmer ein, schaltete den Fernseher ein – und starrte in das ledrige, verzerrte Gesicht einer Moorleiche. Was ich da im Fernseher sah, waren nur Bilder einer harmlosen Dokumentation, aber ich erschrak so sehr, dass ich nichts weiter wollte, als aus dem Wohnzimmer zu entkommen; so weit weg wie möglich von diesem halb verwesten Monster. Ich rannte also zur Wohnzimmertür, nur um festzustellen, dass der Schlüssel nicht mehr im Schloss steckte! (Ich hatte ihn abgezogen und auf den Fernseher gelegt, konnte mich in meinem Schrecken aber nicht mehr daran erinnern.) Ich rief meine Eltern um Hilfe. Vom Bad aus führte eine zweite Tür ins Wohnzimmer, nur dass ein Bücherregal die Tür blockierte. Also musste ich einen großen Teil der Bücher ausräumen, bis mein Vater die Tür vom Bad aus aufdrücken konnte. Und die ganze Zeit über hörte ich die tiefe, bedrohliche Stimme des Sprechers, der von Menschenopfern, Hinrichtungen und Leichenfunden sprach. Die Angst, die ich damals spürte, war kalt und klar. Sobald mein Vater bei mir war, und meine Mutter das Monster mit der Fernsteuerung verscheucht hatte, war alles wieder gut. Angst heute ist anders – tief und undurchsichtig, wie ein schlammiger See.

Leider verschwindet Angst nicht, wenn wir älter werden. Sie verändert sich bloß. Und genauso verändern sich die Maßnahmen, mittels derer wir die Angst bekämpfen. Gerade jetzt scheint Angst allgegenwärtig. Wir haben Angst vor Gewalt und Kriminalität, vor Krieg und Unterdrückung, aber vor allem vor Terror. Und diese Angst wird gefüttert. So veröffentlichte das BKA erst kürzlich die Kriminalstatistik 2015, in der es heißt, dass die Anzahl der erfassten Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 4,1 Prozent gestiegen ist. Das macht 6,33 Millionen Straftaten für das Jahr 2015. Und dann sind da die Medienberichte, die uns immer wieder neue schreckliche Berichte von Anschlägen, Gewalttaten, Epedemien und anderen grausigen Ereignissen liefern. Wem wird da nicht unwohl zu Mute?

Wann ist Angst angebracht?

Angst ist genauso natürlich, wie sie mächtig ist. In Angst tun Menschen Dinge, die sie sich selbst nie zugetraut hätten, die ihren Vorstellungen von Werten und Moral widersprechen und die sie später oftmals bereuen. Und das wissen die. Die, sind jene, die Angst schüren, um uns von ihren Zielen zu überzeugen. Die können viele sein. Manchmal ist es die eigene Mutter, die einem sagt, wenn man nicht aufhöre zu schielen, würden einem die Augen so stehen bleiben. Manchmal ist es der Lehrer, der meint, wenn man seine Hausaufgaben nicht macht, wird man in der Berufswelt versagen. Dann wiederum sind es Werbefirmen und Unternehmen, die uns ihre Produkte andrehen wollen und behaupten, ohne sie seien wir außen vor, nicht gut abgesichert, nicht liebenswert. Aber manchmal sind die größer und undurchsichtiger: Lifestyle-Berater, Politiker und manchmal sogar ganze Parteien, Hassprediger, Terrororganisationen und alle anderen, die darauf setzen, dass man ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt, wenn einem die Angst die Sinne vernebelt. Und viele tun genau das und dann kaufen sie Pfeffersprays, entwickeln einen universellen Hass auf das, was ihnen Fremd ist und wählen am Ende noch eine gewisse Partei, die vorschlägt an den Grenzen auf Flüchtlinge zu schießen.

Angst hat viele Gesichter

Angst sichert uns schon seit Jahrtausenden das Überleben. Sie zu unterdrücken oder zu ignorieren wäre zwecklos. Wenn wir allerdings wissen, dass genau diese Angst auch als Marketing-Tool funktioniert und uns manipulierbar macht, ergibt sich daraus eine neue Sichtweise: Wir sollten nicht alles glauben, was wir hören, lesen, oder gesagt bekommen, genau wie wir die Schlüsse, die wir aus Geschehnissen (wie zum Beispiel Anschläge durch Terrorgruppen) ziehen, mehr als einmal überdenken sollten.

In dem 2001 erschienen Drama-Thriller-Mix „Donnie Darko“ gibt es einen Motivationsredner, der behauptet, jede Handlung sei entweder durch Angst oder durch Liebe motiviert. Zwar entpuppt sich dieser Redner als Mitglied eines Kinder-Porno-Rings und der (Anti-)Held des Filmes erkennt sowieso sehr früh, dass sich unser Leben nicht in diese zwei Kategorien aufteilen lässt; allerdings finde ich es trotzdem interessant, einmal inne zu halten und konkret zu fragen: Warum macht mir diese bestimmte Sache Angst? Wie berechtigt ist diese Angst? Und wie rechtfertige ich, was ich aus Angst unternehme?

Bevor wir aus Angst heraus irrationale Dinge tun, die uns das Gefühl geben, etwas gegen diese Angst getan zu haben, in Wirklichkeit aber gar nichts an der Situation ändern, sollten wir unser Handeln lieber zweimal überdenken. Wir sollten unsere Infos aus mehr als einem Medium beziehen, eigenständig recherchieren und zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden. Und wenn wir wählen gehen, dann sollten wir auch tatsächlich das Wahlprogramm der Parteien gelesen haben, die wir wählen, und unsere Entscheidung nicht aufgrund von BILD-Schlagzeilen und Nachrichtenmontagen fällen. Ein ängstlicher Blick ist nie ein klarer Blick. Hätte mein vierjähriges Ich einen Moment inne gehalten, dann hätte es sich vermutlich daran erinnert, dass der Wohnzimmerschlüssel auf dem Fernseher lag. So hätte ich mir Minuten unausstehlicher Angst und vor allem das wieder Einsortieren des Bücherregals sparen können.